Türchen Nr. 18

Der gläserne Sarg

Der gläserne Sarg

Der gläserne Sarg, illustriert von Josef Hegenbarth (1884-1962) (© Josef-Hegenbarth-Archiv, Kupferstich-Kabinett, Staatliche Kunstsammlungen Dresden)

Sage niemand, dass ein armer Schneider es nicht weit bringen und nicht zu hohen Ehren gelangen könne, es ist weiter gar nichts nötig, als dass er an die rechte Schmiede kommt und, was die Hauptsache ist, dass es ihm glückt. Ein solches Schneiderbürschchen kam einmal in einen großen Wald und verirrte sich. Endlich erblickte er ein kleines Häuschen. Er klopfte mutig an, die Türe öffnete sich, und ein altes eisgraues Männchen öffnete. Der Alte ließ sich erweichen, gab dem Schneider zu essen und ein Nachtlager. Am nächsten Morgen schreckte lauter Lärm den Schneider auf: nahe bei dem Häuschen waren ein großer schwarzer Stier und ein schöner Hirsch in dem heftigsten Kampfe begriffen. Es war lange ungewiss, welcher von beiden den Sieg davontragen würde: endlich stieß der Hirsch seinem Gegner das Geweih in den Leib, worauf der Stier mit entsetzlichem Brüllen zur Erde sank, und durch einige Schläge des Hirsches völlig getötet ward.

Der Hirsch nahm den Schneider auf sein Geweih und es ging schnellen Laufes fort über Stock und Stein. Endlich hielt der Hirsch vor einer Felsenwand still und ließ den Schneider sanft herabfallen. Der Hirsch stieß sein Geweih gegen eine in dem Felsen befindliche Türe, dass sie aufsprang. Feuerflammen und Dampf schlugen heraus, und der Hirsch verschwand. Der Schneider stand unschlüssig, dann trat er ein und gelangte durch die eiserne Tür in einen großen Saal. Hier standen zwei große gläserne Kasten. In dem einen erblickte er ein schönes Gebäude. Im anderen Kasten lag ein schlafendes Mädchen von größter Schönheit. Der Schneider betrachtete die Schöne mit klopfendem Herzen, als sie plötzlich die Augen aufschlug: „Hilf mir aus meinem Gefängnis: wenn du den Riegel an diesem gläsernen Sarg wegschiebst, so bin ich erlöst.“ Der Schneider gehorchte ohne Zaudern, sie stieg herausgab dem Schneider einen freundlichen Kuss auf den Mund erzählte ihm ihr Schicksal:

„Ich bin die Tochter eines reichen Grafen. Meine Eltern starben, und ich lebte mit meinem Bruder in unserem Schloss. Eines Abends kam ein Fremder und wir gewährten ihm ein Nachtlager. Doch er hatte Zauberkräfte und ich sah ihn in mein durch zwei Türen fest verschlossenes Zimmer eintreten. Er wollte mich zur Frau, doch mein Widerwille gegen seine Zauberkünste war so groß, dass ich ihn keiner Antwort würdigte. Der Schwarzkünstler sperrte mich daraufhin in diesen gläsernen Sarg, erschien nochmals, sagte, dass er meinen Bruder in einen Hirsch verwandelt und mein Schloss mit allem Zubehör verkleinert in den andern Glaskasten eingeschlossen hätte.“

Das Fräulein hob den Deckel des andern gläsernen Kastens, und das Schloss wuchs zu seiner natürlichen Größe heran. Ihre Freude ward noch vermehrt, als ihr Bruder, der den Zauberer in dem Stier getötet hatte, in menschlicher Gestalt aus dem Walde herankam, und noch denselben Tag reichte das Fräulein dem glücklichen Schneider die Hand am Altare.


Tür im Felsen, eiserne Tür, zwei Türen hintereinander – hier war jemand auf Sicherheit bedacht. Funktionstüren erfüllen auch spezielle Aufgaben besonders zuverlässig.


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